Projekt Stille - Ein Tag nur für mich

Samstag Morgen. 

Gerade ist die Sonne aufgegangen, ich sitze mit einem Espresso auf dem Ost-Balkon und schaue München dabei zu, wie die Stadt erwacht. 

 

Eine Erkenntnis diffundiert in mein löchriges Hirn: 


"Alter, Du hast heute nichts vor!"


Keine Termine, 
Keine Verabredungen. 
Kein Podcast, der fertig geschnitten oder aufgenommen werden müsste

 

ein wahrhaftiger "Frei-Tag"

 

Im März 2018 habe ich ein Experiment durchgeführt, das in Teilen noch bis heute nachwirkt. 
Ich habe einen Offline-Tag der Stille zelebriert. Damals bin ich bewusst ohne Handy und ohne Uhr in die Stadt gefahren und habe mich treiben lassen. 

 

Auch damals habe ich einen Blogeintrag dazu geschrieben.

Könnt Ihr gerne mal reinlinsen. 

 

 

Heute morgen war sehr schnell klar, dass ich den Tag nutzen und mir einen zweiten Tag der Stille gönnen würde. 

Wieder nur "meine Kamera und ich", wobei ich heute das Telefon zumindest bei mir hatte.

Ausgeschaltet zwar, aber eben dabei.

Fühlte sich richtig an und hat mich auch nicht von meinem Ziel abgelenkt. 

 

Na, denn mal los ...

Wie auch beim letzten Mal fahre ich mit dem Auto bis nach Pasing. Ist einfacher für mich, weil ab dort die Straßenbahnen fahren. 

Tagesticket kaufen und auf die Tram warten.

Sie kommt nach einigen Minuten und bringt mich oberirdisch in die Innenstadt. 

ich steige am Hauptbahnhof aus und bin mittlerweile in einer wirklich "stillen" Stimmung. 

Telefon ist ausgeschaltet in der Tasche, interessiert mich ebenso wenig wie die Uhrzeit. 
Ich habe ja keinen Zeitdruck. 

Schlendere durch die Goethe-Straße. 
Interessantes Eckchen, das ich seit langem kenne und schätze. 

Sexshops, extrem billige (nein, nicht "günstige") Hotels, Computerläden und arabische wie türkische Restaurants wechseln sich ab und dazwischen flanieren die verschiedensten Menschen. Touristen, "einheimische", Menschen, die vielleicht nur die Zeit bis zur Abfahrt ihres Zuges überbrücken wollen. 
ich mag's hier in der Ecke. 

 

Stachus geht immer. 
Es ist viel los, viele Menschen und viel Lärm. 

In mir: Stille, Ruhe, Frieden. 
Denke nach, beschäftige mich mit mir. 
Der eine oder andere Gedanke für neue Podcast-Episoden nimmt Gestalt an, ich ertappe mich dabei, dass ich unglaublich langsam laufe. 
Ein bisschen wie Beppo Straßenkehrer ... "Ein Schritt, ein Atemzug, ein Besenstrich".

Fühlt sich gut an. 

 

Selbst der Trubel in der Fußgängerzone und auf dem Marienplatz können mich nicht aus meinem Gefühl der Stille heraushektiken und das, obwohl ich auf dem Marienplatz ankomme, als am Rathaus gerade das verstimmteste Glockenspiel der nördlichen Hemisphäre seine akustische Umweltverschmutzung absondert.

 
Ganz gruselig, das Ding, aber die asiatischen Besucher unserer Stadt stehen handy- oder tabletbewehrt, mit glückseligem Grinsen da und nehmen das Gepingel auf.
Hmm. Tät ich nicht. 

wirklich nicht. 

Unterhalte mich ein wenig mit einem Fahrradrikscha-Fahrer, der mich beinahe über den Haufen gefahren hätte. 
Netter Kerl, der sich mit dem Job sein Studium finanziert. 

Er möchte leider nicht fotografiert werden.

Schade ... das hätte ich gerne getan. 

 

Naja, es finden sich auch andere Motive also laufe ich langsam weiter. Viktualienmarkt, ein Fresstempel neben dem anderen. 

Wann hat der Viktualienmarkt eigentlich aufgehört, ein Markt zu sein? 
Ich weiß es nicht ... 

 

 

Langsam, ganz langsam geht es weiter. Wohin? 
Weiß ich noch nicht. Ich steige in eine Straßenbahn und fahre einfach drauflos. 

habe nicht nachgeschaut, wohin sie fährt.

Sie stand halt gerade da. 

 

Sie fährt in Richtung Englischer Garten. 
Och, das passt doch. 

Also Englischer Garten. 

Da könnte man ja am Chinesischen Turm ein Radler oderso .... 

Schwupps. 


Ausgestiegen und zum Biergarten gelaufen. 

Habe den Gedanken, dass ich mir ja vorgenommen hatte, "Streetphotography" zu üben. 
Mache also von den um mir sitzenden Menschen ein paar Fotos. Die für mich schwere Aufgabe ist, sie im Anschluss anzusprechen, ob ich die Bilder behalten darf.

Bei dem japanischen Herrn war das etwas schwierig, denn sein Englisch war ähnlich schlecht wie mein japanisch. 

Am Ende habe ich ihm aber verständlich gemacht, worum es mir geht und bekomme sein freundliches OK. 

Schön, das so zu erleben.

 

Vor einigen Wochen habe ich mich mit Kai Behrmann in einer Podcastfolge von Artikel Eins über die Streetphotography unterhalten und damals den Plan gefasst, dieses Genre noch einmal wieder anzugehen. 
Heute nennt man das wohl medienkompatibel "Die Komfortzone verlassen"

 

Hab ich gemacht, hat gar nicht weh getan :-) 

 

Kann es wirklich sein, dass ich seit 22 Jahren in München lebe, aber noch nie zum Monopteros hoch gelaufen bin?
Scheint so.

Ist das nicht unfassbar?
Ein Missstand, den es dringend zu beheben gilt. 

Der Englische Garten ist heute bevölkert wie im schönsten Hochsommer. 

Menschen liegen im Gras und lesen, sie knutschen, sie unterhalten sich mit Freunden oder sie genießen einfach nur den herrlichen Herbsttag. 
In München passiert "Das Leben". 
So, wie es sich für jeden richtig anfühlt. 

Freue mich über dieses Erlebnis und über diese Gedanken. 

 

Soll doch jeder machen, wonach ihm der Sinn steht. 
Solange er damit seine Mitmenschen nicht einschränkt, bedrängt oder missachtet. 

 

Langsamen Schrittes durch Schwabing. 
Ich wirke hier wie ein Anachronismus.

Alt, dick *und* langsam. 

Man könnte auch sagen "Erfahren, präsent und gelassen". 
Würde auch passen.

Zwischen all den Jungen Leuten, die wie selbstverständlich einen dieser Elektroscooter entriegeln und damit losfahren, frage ich mich erstmal, wie das überhaupt geht. 
Nee, eigentlich frage ich mich das nicht, denn auf so ein Ding werde ich nicht steigen. 

 

 

Schwabing summt und brummt vor Leben.

 

Die Schellingstraße, immer wieder spannend, sie zu erleben.

 

Vor rund 15 Jahren habe ich hier mal für eine Weile gearbeitet. Ich denke gerne an diese Zeit zurück und erkenne sogar noch den Eingang, hinter dem sich damals mein Arbeitsplatz befand ...


Meine Fresse, denke ich.

Was ist in den Jahren nicht alles passiert. 

Vieles, das mir heute das Herz wärmt, vieles, auf das ich gerne verzichtet hätte. 

 

Aber ...

Jede einzelne Erfahrung hat mich hierher gebracht. 
Hier her.

Zwotausendneunzehn. 

Ich durfte Menschen kennen lernen, die mein Leben bereichern.

Ich durfte Menschen gehen lassen, die meine Kraft geraubt haben. 

Ich durfte auf einem langen, nicht immer leichten Weg ein Stück weiter auf mich selbst zugehen. 
Der Weg ist noch nicht abgeschlossen.

Dauert noch. 

Aber ich bin unterwegs. 

Und darauf bin ich stolz. 

Ich erlaube mir, meinen Mitmenschen etwas von meiner Grundhaltung abzugeben. 


"Die Würde des Menschen ist unantastbar" ... 
Die wichtigste Überzeugung in meinem Leben. 
In der Schellingstraße werde ich genau darauf angesprochen, denn dieser Satz ist mittlerweile auf meinen linken Unterarm tätowiert. 

"Warum haben Sie denn diesen Spruch tätowiert?"
fragt mich Anne, eine junge Frau, die neben mir ihren Espresso schlürft. 

Wir unterhalten uns eine halbe Stunde, dann trennen sich unsere Wege. 

 

Auch Anne wollte nicht fotografiert werden ("Wegen der DSGVO irgendwie")
Scheiß-DSGVO ... ich hätte die junge Frau gerne in diesem Blogpost gehabt ... 

Liebe Grüße, Anne! 
Vielleicht liest Du das hier ja, meine Visitenkarte hast Du ja :-) 

 

 

Zurück am Stachus. 
Mein Tag der Stille ist rein topographisch ein Rundgang durch München geworden, ohne dass ich das geplant hätte. Begonnen am Hauptbahnhof, beendet am Hauptbahnhof. 

Gedanklich und in meinen Gefühlen war der Tag ein Rundgang durch die vergangenen zwanzig Jahre. 

 

Während ich dies hier aufschreibe und mir die Bilder anschaue, lässt mein emotioneller GPS-Tracker die Gedanken und Gefühle des heutigen Tages noch einmal aufleben, ich habe "aus Gründen" einen feinen Gin-Tonic im Glas (viele Grüße, lieber Falk Gustav Frassa!) und spüre wieder diese tiefe Zufriedenheit, die ein Tag in Stille in mir auslöst. 

 

 

Am Stachus dann überraschend viel Polizei-Aufgebot. 
Das Nazi-Pack der so genannten "Identitären Bewegung" hatte eine Dreckschleuder  (diese Rassisten nannten es wohl "Infostand") aufgebaut. 
Ja, die dürfen das ... 

leider ...



Rund um den ... naja ... bleiben wir mal bei dem Terminus "Infostand" hatte eine Gruppe von Aktivisten mit Plakatwänden eine Schutzmauer gegen den Rassismus aufgebaut.

Vollkommen gewaltlos, aber ausgesprochen präsent. 

Ganz großartig, wie ich finde.

Das Engagement dieser Menschen hat mich schwer beeindruckt.

Plakate mit Aufschriften wie

"Alle Rassisten sind Arschlöcher. Überall"

und ähnlichem wurden hochgehalten. 

 

Ich wurde von einem der Beteiligten angesprochen, für wen ich denn fotografieren würde. 

Wir haben uns lange unterhalten und ich habe gelernt, dass die Faschisten ihre Gegner durchaus auch fotografieren und aus den Fotos quasi "Feindeslisten" erstellen um die Menschen dann zu bedrohen und zu bekämpfen. 

ich war entsetzt, das zu erfahren. 

Ehrensache, dass ich die Bilder, die ich heute in diesem Kontext aufgenommen habe, selbstverständlich nicht veröffentlichen werde. 
Genau genommen habe ich sie bereits gelöscht. 
Um nichts in der Welt werde ich diese mutigen Menschen durch meine Bilder noch mehr in Gefahr bringen, als sie ohnehin schon sind. 

 

... und weiter ging's mit Politik. 

Eine Demo gegen den Einmarsch der Türkei in Syrien ... 

Mannmannmann ... das mit meinen "Tagen der Stille" sollte ich beim nächsten Mal etwas genauer planen. 

Beim letzten Mal bin ich in die Parade zum St. Patrick's Day rein geraten, heute in diese Demo ... 

 

 

Meine Bilanz des heutigen Tages: 
Mein Mobiltelegraf verrät mir, dass ich rund 17.000 Schritte gelaufen bin. 

Ich habe bummelig 80 Fotos aufgenommen, von denen knapp über 40 übrig geblieben sind. 

 

Und ... 

 

Ich habe mir die Zeit genommen, mich auf mich selbst einzulassen. 

Das ist nicht immer durchgängig "schön", aber immer heilsam und es tut mir gut. 

Gedanken an die Vergangenheit, Erlebnisse vergangener Tage neu betrachten und neu einsortieren, Gedanken an zukünftige Dinge zulassen und durchdenken. 
Und dabei auch noch Fotos entstehen lassen. 
Es ist eine Gnade, das so erleben zu dürfen. 


Danke, Universum, dass Du mir solche Tage zuweist und sie mich erleben lässt! 

 

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