Projekt "Stille"

Wie Bitte?


Was hat denn Fotografie mit "Stille" zu tun? 
Wäre das nicht eher was für Musiker?
NEIN! 
Kein Stück. 

 

Hintergrund zu dem Experiment, das ich heute in Angriff genommen habe, war (mal wieder) eine Episode meines erklärten Lieblings-Podcasts Die Photologen.

Falk Frassa und Thomas Jones unterhalten sich in Episode 039 über "Stille", über das Gefühl der Ruhe und der inneren Einkehr beim Fotografieren. Teils kontrovers, aber immer äußerst fühlend und tief. 


Liebe Leser meines Blogs: 
Tut Euch selbst etwas Gutes und hört Euch diesen Podcast an. Er wird Eure Sicht auf die Fotografie nachhaltig verändern. 
Zum Besseren ;-) 

 

Ok, das war nun mal die Werbung, aber worum geht's denn nun eigentlich? 

 


Nimm Dir Zeit ohne Zeit

Das könnte die Überschrift für dieses Projekt, für diese Aufgabe sein. 

 

Falk erzählt in der Episode 039 davon, dass er von Zeit zu Zeit (welch skurriles Wortspiel) *alle* Uhren verleugnet und sich einen Tag ohne Plan, ohne Zeit, ohne Vorgaben gönnt und an diesem Tag einfach nur erleben geht. 

In der Episode rufen die Photologen dazu auf, dass auch die Hörer des Podcast sich einen solchen Tag gönnen sollen und an dem Projekt "Stille" teilnehmen. 

Das hat mich sofort gepackt und fasziniert und eigentlich hatte ich mir schon den Sonntag vor zwei Wochen rausgepickt, um mir meinen Tag zu nehmen. 
Eine fette, höchst unerfreuliche Grippe mit Fieber jenseits der 40°C machte diesen Plan zunichte. 

Aber heute war's soweit.


Gestern Abend schon habe ich meine Kamera vorbereitet. Beide Akkus aufgeladen, CF-Karte leergeräumt, alles bereit gelegt. 

Heute früh war's entspannt. 
Ich war um 0600 wach (wie eigentlich immer), ausgeschlafen, guter Dinge. 
Meine Uhren hatte ich nicht abgeklebt, wie Falk es im Podcast vorschlägt. Für mich hat die Uhr keine böse Wirkung. 
Also darf auch der Herd mir mitteilen, dass es 06:30 ist, als ich mir meinen ersten Espresso mache. 
Stelle mich auf den Balkon und genieße den traumhaften Sonnenaufgang, während die Koffeinbrühe meine Kehle hinunterrinnt. 


Los geht's

So wurde es dann 0800, bis ich meine Verpflegung für den Tag vorbereitet und alles erledigt hatte, was ich noch tun wollte (im Photologen-Campus ankündigen, dass ich jetzt dann losziehen würde zum Beispiel). 
Ab ins Auto, ich wollte der Straßenbahn ein klein wenig entgegenfahren. 
Juckele also nach Pasing, um dort in die Straßenbahn einsteigen zu können. 

Bist Du eigentlich irre?

Es fühlt sich falsch an, das Haus zu verlassen und das Handy ganz bewusst ganz daheim liegen zu lassen. 
Ich will mich aber heute nicht ablenken lassen und aus diesem Grund bleibt der Mobiltelegraf weg. 

Ich will einen Offline-Tag. 

Zu groß wäre die Versuchung, "mal eben" bei Facebook, Instagram oder wo auch immer, nachzugucken, was es denn so neues gibt. 
"Neues" soll mir heute direkt begegnen und nicht virtuell. 

Ist aber schon strange. Ich steige ins Auto, starte den Motor und greife mechanisch zur Brusttasche, in der üblicherweise das Handy steckt. Möchte es in die Ladehalterung stecken. 
Aber da ist kein Handy. Liegt ja oben im Wohnzimmer. Mit Absicht. 
Wann habe ich eigentlich zuletzt das Haus verlassen, ohne mein Telefon mitzunehmen? 
Keine Ahnung. 
Ist aber schon verflixt lange her. Und dann war's vermutlich ein Versehen. 
Es gibt mich eigentlich nicht ohne Handy. 
Könnte man mal drüber nachdenken, ob das wirklich gut ist. 

 

ÖPNV rules

Tageskarte ist gekauft. 
Jetzt kann's losgehen. 


Am Hauptbahnhof. 
Sitze in der Strapazenbahn und sehe diesen leicht angewelkten Blumenstrauß auf einem Auto rumliegen. 
Muss grinsen ...
Brautauto "light" . 
Denke "Boah, das würde ich gerne fotografieren!"
Nächster Gedanke: "Hey, Du hast Zeit! Warum eigentlich nicht?" 
Also ... nächste Station aussteigen, hundert Meter zurücklaufen und das Foto machen. 
Genau darum geht's doch! 
So langsam diffundiert der Grundgedanke dieses Experiments in mein löchriges Hirn. 

Keine Termine, kein Plan, kein Druck. Treiben lassen ist die Devise. 


Und dann ist da Maddalena.

Maddalena lebt in Puerto Rico und ist gerade mit ihrer Schwester zu Besuch in Deutschland.

Portraitshooting von dem Kaufingertor inklusive. 
Es gebietet sich, dass ich, nachdem ich das Foto aufgenommen habe, zu ihr gehe um sie zu fragen, ob sie einverstanden damit ist, dass ich sie fotografiert habe. 
Sie lacht laut und hell auf und versichert mir, dass es ihr eine Ehre sei, wenn ich sie fotografiere. 
Wir unterhalten uns fast eine halbe Stunde zu dritt (Maddalena und ihre Schwester sind ganz wundervoll offen und herzlich) und am Ende bekomme ich Maddalenas eMail-Adresse verbunden mit der Bitte, ihr doch das Foto zu schicken. Sie mag's offensichtlich. 
Mach ich natürlich mit Wonne! 

Irgendwie doch massiv anders und entspannter als das "Recht-am-eigenen-Bild"-Gebrülle, das ich von meinen deutschen Mitbürgern schon mehrfach um die Ohren bekommen habe ...

Die Marienkirche ...
Ich glaube, ich bin der einzige Beutebayer, der in über zwanzig Jahren Ortsansässigkeit das Kunststück hingebracht hat, noch nicht ein einziges Mal diese Kirche von innen besichtigt zu haben. 
Schändlich. 
Will diesen Missstand beheben und stelle fest, dass ..

Ja, Schiet wat. 

Messe is'! 

also wieder nix mit reingehen und besichtigen. 

 

Nehme mir aber vor dass ich das noch in diesem Jahr machen möchte. 

 


Wandere weiter durch die Fußgängerzone. 
Es fällt mir auf, wie unglaublich viele Menschen den Blick starr auf ihre Telefone gerichtet haben, während sie durch unsere wunderschöne Stadt laufen.

Kein Blick links,

kein Blick rechts

und leider auch keiner nach vorne. 
Eine junge Frau rammt mich von seitwärts und beschwert sich dann bei mir, dass ich ihr ja auch hätte aus dem Weg gehen können. ICH hätte ja immerhin *kein* Handy und könne folglich ausweichen. 
Interessante Logik. 
Schmunzele und wünsche ihr einen guten Tag. 


Max-Weber-Platz. 
Höchste Zeit für einen Espresso. 
Beim Versuch, ihn in einem Straßencafé käuflich zu erwerben, übersehe ich eine ca. 20cm hohe Stufe und schmeiße mich der verkaufenden holden Weiblichkeit sehr wirkungsvoll zu Füßen. 
Lande auf dem Steinboden, fieser Schlag im linken Knie, das meinen Sturz abfangen muss. 
Die Kamera knallt gegen die Glasscheibe vor der Warenauslage. 
Laut. 
Beunruhigend. 
Meine ersten zwei Gedanken: 
"Scheiße! Ist die Kamera heil geblieben?"

"Ist das Glas von der Warentheke beschädigt?"
Dritter Gedanke: 
"Au, verdammte Hacke, das Knie tut echt weh! Hoffentlich ist da nix schlimmeres ..." 
Da kann man mal die Prioritäten sehen ...


Die Kamera ist heil geblieben. 
Die Glasscheibe der Warenauslage auch. 

Bei meinem Knie bin ich da aktuell nicht ganz so sicher. 
Fetter Bluterguss, Auftreten schmerzt. 
Na, mal sehen, was dabei rauskommt. 

Der Espresso war dann aber ganz wundervoll lecker.

Am Nachbartisch wird in einem echten Papierbuch gelesen. 

Es freut mich, das zu sehen und natürlich muss das auch gleich festgehalten werden. 
Funktionstest für Kamera und Objektiv nach meinem Abflug sozusagen. 


Während ich meine Kaffee schlürfe, denke ich darüber nach, wie sich der Gedanke des "Tages in Stille" denn so bisher für mich anfühlt. 
Komme zu der Erkenntnis, dass ich genau das ja seit dem letzten November schon alltäglich in meinem Projekt Foffteihn praktiziere. 
Und so ist dieser Tag für mich gar keine so große Neuerung. 
Es ist eigentlich einfach "Foffteihn XXL". Mal nicht nur eine Viertelstunde, sondern ein ganzer Tag. 
Fühlt sich aber saugut an. 

Ich mag diese Geschwindigkeit, ich mag es, mich mit mir selbst zu beschäftigen. 

 

Der Münchner an sich kann schon auch durchaus auf "Revoluzzer" machen. 
Echt! 


Dieser Moment 

in dem Du erkennst, dass Du in der Innenstadt unterwegs bist mit der Idee "Stille" zu erleben und dann der Tatsache gewahr wirst, dass heute
"St. Patricks Day"-Umzug ist ....
Tja, Stille adé ....


Wirkliche Stille gab's für mich dann am Nordfriedhof. 

Nebenan eine russisch-orthodoxe Kirche. 



Mein Tag ohne Uhr und ohne Handy

Ein ganzer Sonntag ohne irgendwelche Pläne, ohne Uhr und ohne multimediale Ablenkung. 
Es ist unglaublich, was das mit mir gemacht hat. 
Ich hatte Zeit. 
Zeit für mich. 
Zeit, über Dinge nachzudenken, die mich bewegen. 
Freundschaft. 

Werte. 

Fotografie. 

Gefühle. 

Arbeit. 

Bratkartoffeln. 

 

Mein Innenleben ist durch Foffteihn ohnehin schon auf diesem Weg. Es aber ganz gezielt einen ganzen Tag lang zu praktizieren, das ist ein Luxus, den ich heute ganz unglaublich genossen habe. 

 

Wie geht's weiter?

Was ich heute erlebt habe, weckt in mir den Wunsch, genau dies öfter zu erleben. 
Ich fühle, dass mir ein solcher Tag unfassbar gut tut und daher werde ich versuchen mir solche Tage regelmäßig einzuplanen. 
 Lieber Falk, lieber Thomas, 
mit dieser Idee habt Ihr mir einen unglaublich heilsamen Tritt in die richtige Richtung gegeben! 
Habt vielen Dank dafür! 


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Kommentare: 3
  • #1

    Moni Sunshine (Sonntag, 11 März 2018 19:33)

    Hallo, zum Ausklang Deines 'planlosen' Sonntags möcht ich Dich gerne beglückwünschen und Dir die Daumen drücken, dass Du das noch öfter erleben kannst!
    Ich hab mir solche Tage schon öfter genommen und nenne das schlicht und ergreifend: Auszeit!! Ich nehme zwar mein Telefon mit, aber: ich bin NICHT DA!! Und eine Uhr hab ich schon seit 2006 nur noch als Wecker für die Arbeit und naja, auf dem Handy halt!
    Aber es gibt Momente im Leben, wo man einfach einen Gang zurückschalten sollte und tief in sich rein...hören? denken? fühlen?? Na halt Zeit für und mit sich verbringen!
    Und dass Du noch nicht im Dom warst tut mir gut!! Bei meinen Touren durch die Stadt bekomm ich machmal den Mund vor staunen nicht zu!? Und ich bin hier geboren! Wie von einem anderen Planeten!
    Ach ja und es macht Spass Deinen Beitrag zu lesen, also MIR auf jeden Fall :-)

  • #2

    Michael (Sonntag, 11 März 2018 19:50)

    Dieser Beitrag ist so wundervoll. Ich muss gestehen... Ich habe es gelesen und mehr als eine Träne ist geflossen - Warum? Weil dieser eine Tag und das Revue mir aufzeigt, wie sehr wir doch durch die Technik vergessen haben, wir zu sein. Wir mit voller Seele.

    Und es weckt in mir den Wunsch, mehr für mich zu tun.... nur wenn wir wir selbst sein können, Sind wir für die da, die uns brauchen....


    Danke für dieses Teilen.

  • #3

    jens f. kruse (Montag, 12 März 2018 12:13)

    feines projekt & feine resumees, die du daraus ableitest! ich trage seit kch "momo" von michael ende gelesen habe ( also seit ca. 40 jahren) schon keine uhr mehr! ein smartphone habe ich auch nicht & ich kuemmere mich um diese auszeiten taeglich ... das feine ist, das ich es mir leisten kann ... das war ,ein ziel, dem system ein schnippchen zu schlagen ... nicht nur im urlaub oder ab & zu, immer! das klappt mehr oder weniger gut & macht ziemlich frei! viel erfolg weiterhin ...

    jfk ... aus spanien